Meine Familie ist keine Fussballfamilie. In der nächsten Verwandtschaft war mein Grossvater mit seinen gelegentlichen Spielbesuchen beim BC Konstanz-Egg dem Ball am nächsten. Ein Grossonkel spielte Fussball bei der französischen Fremdenlegion, wie ein vergilbtes Foto aus dem staubigen Algerien beweist. Er träumte von einem Häusschen an der Côte d’Azur, starb jedoch berufsbedingt früh. Meine eigene Karriere endete mit 12 Jahren im talentlosen D-Standard-Team. Doch nun kam ich unverhofft zu einem Vorfahren mit Talent am Ball. Erich Ott, mein Urgrossvater mütterlicherseit, spielte tatsächlich in der damals höchsten Liga des Landes. Von meiner Urgrossmutter war lediglich überliefert, dass er „immer auf den Platz ging“ und im Tor stand.
Meine Vorfahren lebten damals in Kolberg an der Ostsee, was heute zu Polen gehört. Erich war Berufssoldat und fuhr im Oktober 1942 bis zu einer Brücke in der Ukraine, bei der er dann ums Leben kam, ein sinnloser Tod wie es die meisten Tode im Krieg sind. Er hinterliess meine Urgrossmutter mit vier kleinen Kindern.
Während Goebbels vom Endsieg schwadronierte packte meine Urgrossmutter die Koffer, deutlich früher als es die meisten anderen taten und ersparte der restlichen Familie damit viel Leid. Mit einem Wasserflugzeug ging es nach Westen, dabei verlor man fast das Kleinste in den Fluten. Zur gleichen Zeit plünderten die lieben Nachbarn die Wohnung in Kolberg. Jeder ist sich selbst der Nächste. Von Norddeutschland aus gab es zwei Möglichkeiten, Ruhrgebiet oder Bodensee. Vielleicht hätte mein Urgrossvater die Fussball-Region an der Ruhr vorgezogen, aber das wäre wohl eher unwahrscheinlich gewesen. Für meine geografisch bewendete Urgrossmutter Margarethe Ott war klar, der schöne Bodensee soll es sein.
Das Erich mal im Tor stand, eine Nebensächlichkeit welche in der Familie kaum Erwähnung fand. Dabei war er gut. Nachfragen bei der Freundesgruppe „Fussball-Land Pommern“ (es gibt mittlerweile für alles eine Freundesgruppe!) ergaben, dass Erich tatsächlich in der Gauliga spielte. Beim HSV Hubertus Kolberg, dem Heeres-SV, was als Berufssoldat wenig überraschte. In Pommern gab es zur damaligen Zeit immerhin 400 Fussballvereine und nur 14 davon spielten in der Gauliga. Die Gauliga-Meister ermittelten in einer Endrunde den deutschen Meister. Soweit hat es für den HSV Hubertus nur im letzten Jahr gereicht, 1944 kurz vor der Auflösung des Vereins. Der HSV scheiterte erst im Halbfinale gegen den LSV Hamburg und verzichtete anschliessend auf das Spiel um Platz 3 gegen den 1. FC Nürnberg. Mein Urgrossvater lebte da schon nicht mehr.
Erich Ott, ganz links, als Torhüter beim HSV Hubertus Kolberg, 1936.
Krieg, Flucht, Vertreibung schafft leider auch Fussballerschicksale, wie oben geschildert („Erich“). Ein schöner Bericht aus einer für viele unbekannten, trüben Zeit.
Wir waren auch keine „Fussballfamilie“, obwohl unser Vater als „Sportoffizier der Schweizer Armee“ (und tüchtiger Turner-Leichtathlet) die Kriegszeit verbrachte. Armee und Eidgenössischer Turnen waren damals ziemlich eins. Ob im militärsportlichen Leistungskatalog des Vater auch „Fussball“ stand? Kaum! Korbball – „Dorfbasket“ – schon eher. Neben „Völkerball“ (wenn dem Lehrer nichts mehr einfiel!) noch allen aus der Schulzeit bekannt und von jedem einigermassen spielbar.
Weiter östlich vom oben erwähnten Kolberg, in Tilsit/Ostpreussen, wurde meine Frau geboren. Auch in ihrer Familie: Null Fussball, mehr kulturell unterwegs – Literatur, Musik. (Hilfe: Fussball hat auch eine „Kultur“!). Auf einem alten Stadtplan von Tilsit sah ich immerhin ein „Hindenburgstadion“ mit properer Tribüne und einem Rampenoval (20’000 Zuschauer). Die Stadt an der Memel hatte damals knapp 60’000 Einwohner. Das heute russische „Sowjetsk“, Gebiet Kaliningrad/Königsberg, ist geschrumpft, die Hindenburg-Arena verlottert. Ich weiss nicht, wer dort früher gespielt hat. Es existierten in den 30er Jahren in Tilsit einige Fussballklubs – u.a. ein VfB, ein SC, der MSV von der Goltz (Militärsportverein), ein litauisch orientierter Sportverein. Die ersten drei erwähnten Klubs spielten sogar kurze Zeit in der gleichen „Gauliga“. Also Stadtderbys noch und noch!
Was bekannter sein dürfte, sind die Namen zweier Spielern, die in den 40ern in Tilsit geboren sind und später, nach der Flucht, in Westdeutschland zu einer beachtlichen Fussballkarriere starteten: Jürgen Kurbjuhn war u.a. in der Seelerzeit eine feste Grösse bei HSV, mit sogar einigen Länderspielen und einem DFB-Pokalsieg. Klaus-Dieter Sieloff war noch erfolgreicher: zuerst VfB, und dann in einer prächtigen Klubzeit bei Borussia Mönchengladbach mit zwei Deutschen Meisterschaften und einem DFB-Pokalsieg, sowie einigen Länderspielen.
Übrigens spielte der oben erwähnte BC Konstanz-Egg, gegründet 1951, bei der Eingliederung von „fremden Menschen“ in die Gesellschaft eine positive Rolle, wie ich in einem Zeitdokument las. Am Ufer in Egg war nach dem Krieg das Konstanzer Auffanglager für Flüchtlinge und Vertriebene aus einem ehemaligen „Jugend-Wehrertüchtigungslager“ entstanden („Lager Egg“).
Gerade in der heutigen Zeit würde Wissen und Verständnis zu Krieg, Flucht und Vertreibung sehr gut tun. Viele Zeitgenossen sind da erschreckend einfach gestrickt.
Die Dörfer haben sich hierzulande durchaus noch Ihre Nischen bewahrt, Lengwil-Oberhofen (Korbball), Wigoltingen oder Ermatingen (Faustball) und so weiter, kommen also ganz prima ohne Fussballclub aus.
Zu Tilsit gibt es ja gerade eine interessante „Käse-Geschichte“. Die erneute Produktion von Tilsiter-Käse durch Schweizer in Tilsit scheiterte erst kürzlich.
Gleich wieder ein Themen-Sprung: Die Gauligen wurden während der Kriegsjahre nochmals geographisch verkleinert, so kam es wirklich zu sehr vielen Derbys. In Kolberg gab es noch die Viktoria und Germania. Im Magazin „Zeitspiel“ werden in kommenden Ausgaben diese Jahre des Pommern-Fussballs ausführlich behandelt, worauf ich mich schon freue.
Sehr interessant mit Egg, der Verein ist ja noch heute ein kleiner bescheidener Quartierverein. In dem Fall war der Verein noch sehr jung als mein Grossvater dort verweilte. Meine Grosseltern hatten sich auf einem Fasnachtsball kennengelernt, ich glaube der war speziell für die Flüchtlinge organisiert.
Meine Urgrossmutter bekam damals an der Gottfried-Keller-Strasse, nähe Cherisy-Kaserne, eine Wohnung zugewiesen. 2 Zimmer für 6 Personen mit Kohle-Heizung, aber immerhin und Neubau war es auch. Das Mehrfamilienhaus steht noch jetzt. Jeden Sonntag gab es Essen für die Familie auf engstem Raum, sehr deftig und sehr gut und das schwere Waffeleisen blieb mir auch in guter Erinnerung. Die Küche durfte niemand betreten, nur ich mit meinen sechs oder sieben Jahren, weil ich immer schön still war und ihr nur zusah. Aber trotzdem war es herzlich, eine andere Welt die ich noch erleben durfte, inklusive Dackel und Geranien auf dem kleinen Balkon. Nach dem Essen war die Wohnung zu eng und es ging gemeinsam zum Bismarck-Turm, „geht mal zum Bismarck“ hiess es dann von meiner Uroma.
Habe selbstverständlich nichts gegen „Korbball“! Warf selbst in der Jugendriege hunderte von Körben. Lustig noch: Zum „Faustball“ sagte wir damals „Puuretänis“ – heute auch ein „Leistungssport“. Beide Spiele sind von ihrer Einfachheit her ein ideales sportliches Medium (und ganz ohne „Abseitsärger“!).
Der „kleine bescheidene Quartierverein Egg“ ist immerhin akademisch geadelt, spiel er doch heute auf dem Sportgelände der Universität Konstanz. Die Notiz über den Klub betreffend „Lager Egg“ entnahm ich übrigens einer „lokalgeschichtlichen Studie“ (Patrick Konopka, „Die Integration der Flüchtlinge nach 1945 in Konstanz“, avm-Verlag, 2010). Im Lager „residierte“ auch die Familie meiner Frau, bevor sie eine Wohnung an der Conradin-Kreutzer-Strasse (Komponist aus Messkirch, gestorben in Riga!, 1780-1847) zugewiesen bekam. Später wohnten wir alle zwischen Königsbau und Uniwald. Die Bismarckturm-Höhe war für uns der „Monte Bisi“.
Noch ein Wort zum erwähnten „Käse“: Das Rezept brachte ein Thurgauer, Herr Wartmann vom Holzhof (zwischen Bissegg und Griesenberg), vor langer Zeit in die Schweiz (schöne Dokumentation an einer Hof-Gebäudewand!). Wir lernten mal anlässlich der halb offiziellen Bekanntmachung „Holzhof gleich Tilsit“ (mit Ortstafeln!) u.a. den zweiten Bürgermeister des heutigen „Sowjetsk“ (Tilsit) kennen. Der Käse, den er damals mitbrachte, war allerdings nicht identisch mit dem heute im Thurgau produzierten Tilsiter, eher mit dem Norddeutschen. Aber das war auch nicht entscheidend. Es ging um gelebte Geschichte, um Austausch von Gedanken, um Verständigung.